Schule mit Zukunft - Befreit den Kraken

Bildungsgipfel! Ich könnte schreieeeeen! Alles ist gesagt, nur noch nicht von jedem. Ich bin ja nur ein kleiner dulliger Lehrer, der zugegebenermaßen schon länger über den Tellerrand schaut und denke mir: So schwer kann es doch nicht sein. Ist ja nicht so, dass unsere Schule erst seit diesem Jahr (ja, ja Lehrermangel) am Ende ist. Die von mir erwartete  Disruption des Bildungssystems durch  digitale Transformation und Inklusion ist ausgeblieben. Überraschung. Jetzt braucht es wieder eine Taskforce. Als würde es an Ideen, Wissen und Leuchtturmschulen hapern. Gebt den Schulen Autonomie und pumpt Geld in das System (Menschen, Gebäude, Fortbildung) und ihr würdet euch wundern, was einzelne Schulen bewegen. Befreit den Kraken!

 

Leider ist der ganze Tanker an die Wand gefahren. Mit Vorsatz. Jesper Juul hat schon vor 10 Jahren in seinem Buch Schulinfarkt das Ende unserer krankmachenden Traditionsschule prophezeit und gehofft, dass Kinder, Eltern und Lehrkräfte gemeinsam für eine neue Schule auf die Straße gehen. 

 

Was soll ich sagen: Schulgebäude, Inhalte, Organisation von Unterricht -  riecht alles nach 1911. Dem Geburtsjahr der 45-Minuten Stunde. Durch Corona wurde uns endgültig vor Augen geführt, wie Schule bisher funktioniert: Separation, Exklusion, Lehre im Gleichschritt, veralteter Unterrichtsstoff und Prüfungsdruck. Fremdbestimmtes Lernen und kaum authentische Lernsituationen im 45-Minuten-Takt sind Sinnbild eines Auslaufmodells. Also so ziemlich das Gegenteil von dem, was in der heutigen Welt so wichtig ist (Quelle). 

 

Der Ruf nach der Rückkehr in eine Schulnormalität (Quelle) war in Wirklichkeit ein Aufruf zur Bewahrung eines tradierten Systems. Wer sich also einen großen Schub durch Corona erhofft hatte, wurde bitter enttäuscht.  

 

Gefangen in der Endlosschleife

Seit Jahren ist die 'Schule im Wandel' mein Herzensthema und ich praktiziere sie tatsächlich. In den Grenzen des kaputten Systems. Ich rede nicht nur, ich mache. Auch ich habe das Gefühl alles schon überall gesagt zu haben. Ich reise durch das Land als Kettensprenger, doch am Ende geht es um Stoff, Lehrpläne und Unterrichtsversorgung. Lehrkräfte als dealende Stoffvermittler. Mehr fällt uns zum Thema Potenzialentfaltung nicht ein. Vielleicht noch das heilige Abitur. Ohne bist du zwar nicht nichts, aber nicht mehr viel (sorry Erich Fried). Was ein Unsinn. So könnte ich hier also erneut wiederholen, was in Schulen schief läuft. Endlosschleife. 

 

Die Kernprobleme unseres Schulsystems lassen sich in folgenden Thesen kanalisieren: 

  1. Die Werte unserer Schule sind die Werte des Industriezeitalters
  2. Fremdbestimmung ist das Paradigma unserer schulischen Lernorganisation
  3. Unsere Schule bietet wenige authentische Lernsituationen
  4. Unser Unterricht lässt kaum Platz für Leidenschaften und eigene Interessen der Lernenden
  5. Lehre im Gleichschritt widerspricht dem Gedanken von Individualisierung und Inklusion

Ich lasse es aber ;-)  Schule im Kontext digitaler-inklusiver Bildung benötigt einen nie da gewesenen Wandel, eine Transformation, um Kindern und Jugendlichen schon heute zeitgemäßen Unterricht zu ermöglichen. Einen Unterricht, der sie gestaltungskompetent macht, um die massiven Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu bewältigen.

 

Es braucht einen Paradigmenwechsel, um die zukünftigen Generationen auf das Leben in der BANI-Welt vorzubereiten. BANI beschreibt unsere Welt als brüchig und schnelllebig in der uns unvorhersehbare und oft auch unverständliche Entwicklungen ängstlich zurücklassen. Das Wissen von gestern ist in einer digitalen Welt und in Anbetracht einer sich rasant entwickelnden künstlichen Intelligenz wenig wert. Junge Menschen brauchen Veränderungskompetenz gleichermaßen wie digitale Skills und ethisch-moralische Wertvorstellungen zur Bewältigung aktueller und zukünftiger Krisen und Komplexitäten. Das funktioniert nicht mit Lernen im Gleichschritt, mit Reproduktionswissen von gestern, nicht in Klassenräumen aus den 70er Jahren und einem 45-Minuten-Takt von 1911. Siehst du: ich wiederhole mich. Endlosschleife. 

 

Ich raste aus: Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Ich mache es daher kurz und ohne Bilder, alles andere könnt ihr nachlesen bzw. nachschauen: Schule im Wandel - Eine Geschichte in 15 Bildern . Inzwischen 4 Jahre alt, das gute Stück. Endlosschleife.

 

Also, wie nun konkret? Hier meine Top 7:

 

Top 7

  1. Mehr Geld - wenig Zeit: Zum Nulltarif gibt es die Revolution nicht. Da hilft auch keine gut gemeinte Milliarde für Brennpunktschule. Wir brauchen ein Sondervermögen wie für die Bundeswehr oder - von mir aus - ein "Doppelwumms". Unser größter Rohstoff ist und bleibt Bildung. Die Zeit des Zögerns ist vorbei - jetzt ist es Zeit für Aufbruchstimmung. Machen ist wie wollen, nur krasser!
  2. Eigenverantwortliche Schule -  eigenverantwortliche Schüler*innen: Schulen müssen sich eigenverantwortlich organisieren, insbesondere in den Bereichen der Budgetierung, Stundentafel, Fachstruktur und Personalentscheidungen.  Lehrer*innen brauchen Gestaltungsfreiräume und Schüler*innen dürfen Lernen. Nicht "one size fits all", keine Bullimie-Klausuren und keine Stoff-Trichter. Die Lernenden sollten Lerninhalte und -methoden entsprechend ihrer Interessen, Fähigkeiten und Bedürfnisse anpassen dürfen (Personalisiertes Lernen). Kurz: Autonomie für alle Beteiligten.
  3. Reduktion von Stoff - Entwicklung von Menschen: In allen Schulformen und allen Fächern soll bei der Überarbeitung vor allem an der Entfrachtung von Inhalten gearbeitet werden, um Zeit für echte Lernwege, deutlich mehr (fächerübergreifende) Projektorientierung und echte Lernbegleitung zu gewinnen. Unser bisheriges Schulsystem ist sowieso gnadenlos ineffektiv, da es auf der Vorstellung beruht, Lernen sei büffeln und auswendig lernen. 13.000 Schulstunden und ein paar tausende Stunden Hausaufgaben und Nachhilfe erleben Schüler*innen in ihrer Schullaufbahn - und doch bleiben weniger als 5 Prozent des Gelernten hängen (Quelle). Cringe!
  4. Agile Welt - flexible Schule: Ein neues Arbeitszeitmodell ist überfällig. Alle Befunde sind seit der größten Studie zu Lehrergesundheit von Schaarschmidt (2005/2006) bekannt und die Vorschläge liegen auf dem Tisch. 4-Tage-Woche, 19 Stunden Unterricht (Rest Beratung, Vorbereitung, Feedback, Lernbegleitung), alternative Ferientaktung, Zeit für Fortbildung; Teamzeiten vor Ort, Arbeitsplatz an der Schule. Genauso braucht es auch flexiblere Organisationsformen für Schüler*innen, um ihren Bedürfnissen besser gerecht zu werden und die Taktung aus Zeiten der Fabriken (damals waren da noch Menschen) und Schreibsälen (damals wurde noch geschrieben) hinter uns zu lassen. Schließlich brauchen wir kreative Problemlöser, denen die Möglichkeiten gegeben wird, eigene Ideen zu entwickeln, auszuprobieren und zu reflektieren. Für alles andere gibt es Maschinen. „We cannot teach our kids to compete with machines.“ (Jack Ma, 2018)
  5. Ohne Noten - ohne Stress: Geschätzte eine Milliarde schriftliche und mündliche Schulnoten werden jährlich in Deutschland verteilt. Ca. 4,6 Milliarden Euro gaben deutsche Eltern schon vor knapp 10 Jahren laut Statistischem Bundesamt für Nachhilfeunterricht ihrer Sprösslinge aus (Quelle). What the... Warum wir immer noch versuchen, junge Menschen (und ihre um das Abitur besorgen Eltern) mit Ziffern zu gängeln, versteht wer will. Was wir brauchen ist eine Abkehr von Notenfixierung und subjektiver Leistungsbeurteilung.  Anstatt sich auf Noten zu konzentrieren, sollten Schulen alternative Wege finden, um den Fortschritt und die Leistung der Schülerinnen und Schüler zu messen. Das bezieht nicht nur die Messung selbst, sondern insbesondere die Prüfungsformate ein. Es geht auch anders. Das deutsche Bildungssystem war schon bei PISA 1 höchstens ne 3-. Mittlerweile stehen wir wohl auf 5. Notensprung in der Schüssel. Unser Bildungssystem - und damit die Bildung unserer Kinder - verliert immer mehr an Boden. Am Ende sind wir wohl doch nur Bildungshochstapler.
  6. Bildungsgerechtigkeit - Teilhabe: Eine echte Teilhabe an der digitalen Welt ist eng verbunden mit der Integration von Technologie. Das wiederum würde endlich zu mehr Bildungsgerechtigkeit führen. Schulen sollten digitale Medien wie selbstverständlich nutzen, um Schülerinnen und Schülern einen besseren Zugang zu Bildungsinhalten zu ermöglichen.  Zugang für alle. Digitale Kompetenz heißt, sich in unserer Informationsgesellschaft zurechtzufinden, in ihr zu lernen, zu arbeiten und am digitalen Lifestyle teilzunehmen. Ohne digitale Schlüsselkompetenzen wird die nächste Generation abgehängt. Berufsbilder und Tätigkeitsfelder sind im Wandel und mit ihr die damit verbundenen Anforderungen und benötigten Kompetenzen (Quelle). Also Schluss mit elternfinanzierten Geräten (siehe Punkt 1) und Appkosten, die auf die Erziehungsberechtigten abgewälzt werden müssen. "Future is now" (Peter Fox)
  7. Komplexe Welt - vernetztes Denken: Schüler*innen sollten die Gelegenheit bekommen, verschiedene Fächer miteinander zu verbinden und dadurch ein besseres Verständnis für komplexe Zusammenhänge zu entwickeln. Kurz: Wir brauchen nicht mehr Fächer - sondern weniger! Sobald irgendwas mit dem Nachwuchs nicht läuft, ist die Forderung nach einem neuen Fach nicht weit. Die Kids sind alle unglücklich (Ach!), dann brauchen wir das Fach Glück. Die Kids achten nicht auf sich und andere (woher sie das wohl haben?), dann brauchen wir das Fach Achtsamkeit. Die Kids sind doch keine Digital Natives (Überraschung), dann brauchen wir das Fach Medienbildung. Die Kids sind alle zu dick, dann brauchen wir das Fach Ernährung. Ich kann es nicht mehr hören. Wir trennen Fächer und Inhalte. Wir selektieren, separieren und unterteilen. Schluss damit! Befreit den Kraken!

Kommentar schreiben

Kommentare: 3
  • #1

    Barbara (Sonntag, 19 März 2023 06:49)

    Vielen Dank! Sie sprechen mir aus dem Herzen. Ich bin seit 25 Jahren Ergotherapeutin und Lerntherapeutin. Die Praxis bricht aus allen Nähten und ich kann den Kindern oft nicht mehr helfen, weil ich sie in ein System zurück schicken muss welches Lernen nicht unterstützt. Es gibt soviele gute Ideen aber sie spielen in der Politik einfach gar keine Rolle. Der wirkliche Wandel ist nicht erwünscht.

  • #2

    Daniel (Sonntag, 26 März 2023 20:14)

    Interessant, wie man die Situation, in der wir uns befinden, so komplett unterschiedlich einschätzen kann. Entsprechend hoffe ich auf das Gegenteil von Ihren Forderungen, bzw. dass von ihnen möglichst wenig umgesetzt wird. Die Zeit und die Moden arbeiten aber wahrscheinlich für Sie und gegen mich...

  • #3

    Anne Hein (Mittwoch, 13 September 2023 07:49)

    Ich bin seit 33 Jahren Lehrerin (Ma/Kunst/Theater/ETEP) und habe drei Kinder großgezogen. Ich habe also aus beiden Sichten Entwicklungen verfolgen können. Mein jüngster Sohn lernt jetzt in der Abiturstufe an einer freien Schule (Montessori/Jena-plan/ freie Konzepte). Punkt 7 wir dort seit Jahren umgesetzt . Und es ist bei meinem Sohn absolut erfolgreich. Die Reformpädagogik hat also viele Ansätze schon vor 100 Jahren aufgezeigt. Hoffnungsschimmer sind für mich Schulen, die sich auf den Weg gemacht haben, ja die gibt es und es kann funktionieren. Danke für diesen Blog.