Schule im Wandel - Ausgangslage & Entwicklungsfelder (Teil 1/5)

Schule im Kontext inklusiv-digitaler Bildung  benötigt einen nie da gewesenen Wandel, eine Transformation, um Kindern und Jugendlichen schon heute zeitgemäßen Unterricht zu ermöglichen. Einen Unterricht, der sie gestaltungskompetent macht, um die massiven Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft zu bewältigen. Unsere Traditionsschule ist ein Auslaufmodell - ein schwerfälliger Tanker, ein künstliches und krankmachendes System, ein marodes Gebäude (bildlich und wirklich).  Unsere große Aufgabe besteht darin, ein neues Verständnis von Lernen und Lehren im 21. Jahrhundert zu entwickeln und zu gestalten. Es ist unsere Aufgabe, jungen Menschen zu ermöglichen, sich Wissen, Kompetenzen und Haltungen anzueignen, die sie zukunftsfähig, selbstbestimmt und selbstwirksam werden lassen. Es ist unsere Aufgabe vermeintlich Bewährtes zu hinterfragen, Strukturen zu reformieren, Komfortzonen zu verlassen, unbequeme Fragen zu stellen und das System Schule zu hacken. Wir brauchen keine Diskussionen um Betriebsysteme, keine weitere Tablet-Versuchsklasse, keinen neuen Namen über dem Eingang der Schule. Wir brauchen den großen Wurf!

Wir brauchen neben Investitionen in das Bildungssystem vor allem Haltung, denn machen ist wie wollen, nur krasser. Es braucht einen Paradigmenwechsel, um die zukünftigen Generationen auf das Leben in der VUCA-Welt vorzubereiten. 

 

Wie kann so ein großer Wurf angegangen werden? Welche Weichen müssen gestellt werden? Wie kann eine konkrete Veränderung aussehen? Welche Entwicklungsfelder sollen bearbeitet werden?

Wie sieht ein möglicher Fahrplan für die praktische Umsetzung aus? 

 

In insgesamt fünf Beiträgen möchte ich versuchen, Antworten zu liefern, Möglichkeiten für konkrete Veränderungen aufzuzeigen und Mut zur Veränderung zu machen. Ich bin überzeugt davon, dass es sich lohnen wird.  

 

Im ersten Teil nehme ich zunächst anhand von 5 Kernproblemen die Ausgangslage in den Blick, um daraus 4 Entwicklungsfelder für eine praktische Umsetzung einer 'Schule im Wandel' abzuleiten.

Ausgangslage

Damit klar wird wovon ich spreche, möchte ich im ersten Teil zunächst die Ausgangslage definieren. Diese ist vor allem ein negativ gezeichnetes Bild mit ernüchternden Erkenntnissen. Die Kernprobleme unseres Schulsystem sind schnell auf den Punkt gebracht und lassen sich in folgenden Thesen kanalisieren: 

  1. Die Werte unserer Schule sind die Werte des Industriezeitalters
  2. Fremdbestimmung ist das Paradigma unserer schulischen Lernorganisation
  3. Unsere Schule bietet wenige authentische Lernsituationen
  4. Unser Unterricht lässt kaum Platz für Leidenschaften und eigene Interessen der Lernenden
  5. Lehre im Gleichschritt widerspricht dem Gedanken von Individualisierung und Inklusion

1. Die Werte unserer Schule sind die Werte des Industriezeitalters

In unserer global vernetzten Digitalgesellschaft braucht es andere Kompetenzen, um zukünftige Generationen auf die Herausforderungen der Gesellschaft vorzubereiten, als Werte und Organisationsformen zu Zeiten der Industrialisierung. Über 50% von Arbeitsabläufen sind heute schon automatisiert (Welche Jobs und Berufe künftig überflüssig werden). Dieser Prozess ist nicht aufzuhalten. Die Gesellschaft entwickelt sich rasend schnell  weiter und um uns herum laufen technisch-informatische Prozesse ab (Künstliche Intelligenz, Automatisierung, SmartHome, Blockchain, Kryptowährungen etc.), die wir nicht wirklich verstehen. Wenn zukünftig 50% der Berufe - wie wir sie kennen - wegfallen, kann es sich Schule nicht weiterhin leisten, sich an Fabriken und Schreibsälen zu orientieren. 

 

2. Fremdbestimmung ist das Paradigma unserer schulischen Lernorganisation

Junge Menschen erleben in ihrer Schulzeit vor allem Eines: Fremdbestimmung. Seit 1911 werden die Inhalte feinsäuberlich nach Fächern gegliedert und scheibchenweise in der Schule serviert. Ein Stundenplan soll das Lernen organisieren. Für alle gleich. "Der preußische Erlass von 1911 orientierte sich an den neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen. Mit den nun eingeführten sogenannten "Kurzstunden" von 45 Minuten konnten die 30 bis 32 Wochenstunden komplett auf den Vormittag gelegt werden." (Warum hat eine Schulstunde 45 Minuten?)

Lernende folgen diesem Plan seitdem mit dem gewünschten Gehorsam. Wer nicht ins Raster passt, ist ein Schulversager. Dass die Wirtschaft längst nicht mehr nach dressierten und gehorsamen Mitarbeitern sucht, wird nur selten hinterfragt. Sind diese Skills also noch am Puls der Zeit? Nein. Gefragt sind viel mehr Offenheit, Kreativität und Eigenverantwortung. Den Rest erledigen in Zukunft vermehrt Maschinen

 

3. Unsere Schule bietet wenige authentische Lernsituationen

Um zukünftige Schule zu gestalten und authentisches Lernen zu fördern braucht es entsprechende Handlungssituationen für den Unterricht. Themenorientierter Unterricht statt Unterteilung in Fächer. Für größere Sinnzusammenhänge und gehirnfreundliche Lernsettings. In Deutschland ist der Trend oft gegenteilig. Die Forderung nach mehr Fächern kommt in regelmäßigen Abständen auf die Agenda: Glück, Achtsamkeit, Ernährung, Medienbildung usw. Dies führt allerdings weder  zu vernetztem Denken und Arbeiten, noch zur Förderung der 4 K. Ebenso fördert es erst recht keine authentischen Lernsituationen, sondern macht schulisches Lernen - im Gegenteil - noch künstlicher.

 

Je länger man als Lehrerin oder Lehrer im Beruf tätig ist, desto bequemer werden die  Dinge, die wir schon immer so gemacht haben.  Abläufe, Verfahrensweisen, Strukturen, Unterrichtsinhalte, Methoden etc. sind über Jahre ritualisiert und werden nicht mehr hinterfragt. Doch wie  geht Unterricht im 21. Jahrhundert? Ich sage: problemorientiert, kontextbezogen, lernerzentriert projektartig und authentisch. Dies schauen wir uns in Teil 2/5 genauer an.

 

4. Unser Unterricht lässt kaum Platz für Leidenschaften und eigene Interessen der Lernenden

Die fehlende Authentizität von schulischem Lernen hängt auch ganz eng mit der fehlenden Selbstbestimmung an Schulen zusammen. Das Lernen dort ist geprägt vom Steuerung und Fremdbestimmung. Wie man so Selbstwirksamkeit erfahren soll, ist mir ein großes Rätsel.  Vorgegebene Inhalte, festgelegte Ziele und ein starrer Stundenplan blenden wichtige Aspekte von Lernen aus.  Serendipität ist praktisch unmöglich. Der Spagat, Vorgaben des Lehrplans erfüllen zu müssen und auf die Wünsche, Interessen und Leidenschaften aller Kinder und Jugendlichen gleichermaßen und doch individuell einzugehen, gelingt nicht. Selbst bei den erprobten kooperativen wie individuellen Methoden bleibt das Setting durch die Lehrkraft inszeniert, die entsprechende Materialen auswählt und (bestenfalls differenziert) bereitstellt. Schülerorientierung bitte nur vom Lehrer vorgeplant. Ein möglicher, zukunftsfähiger Weg könnte die Idee des Frei-Days der Initiative Schule im Aufbruch sein ( Teil 2/5).  Falls denn diese Freiräume überhaupt erwünscht sind. 

 

5. Lehre im Gleichschritt widerspricht dem Gedanken von Individualisierung und Inklusion

Inklusive Lernsettings sind hochgradig heterogen. Zwischen den Lernenden liegen z.T. Jahre an Entwicklungsstufen. So ein Setting erfordert individuelles und passgenaues Lernen, gepaart mit kooperativen wie selbstgesteuerten Lernprozessen. Merkmale für zeitgemäßes Lernen sind Lernerorientierung, Selbstverantwortung und Ganzheitlichkeit. Dies funktioniert nicht im Gleichschritt und frontal gesteuert.  'Schule im Wandel' ist die Renaissance der Reformpädagogik (u.a. Montessori) und wird durch die Möglichkeit der Digitalität verstärkt. Es geht dabei nicht nur um personenzentrierte, digitale Lernressourcen, sondern schlichtweg um digitale Teilhabe und Mitbestimmung.

 

Für eine umfassende Betrachtung des Transformationsprozesses von Schule ergeben sich m.E. weitreichende Konsequenzen vor allem für die Schulorganisation,  die Leitung von Schule, den Unterricht (Lehren und Lernen) und die Rolle der Lehrenden. Diese vier Säulen einer 'Schule im Wandel' möchte ich in den folgenden Beiträgen als Entwicklungsfelder bezeichnen und genauer beleuchten.

 

 

Die vier Säulen  sind Chancen und Herausforderungen zugleich. ‚Schule im Wandel‘ stellt die Dimensionen des Lernens (Das Was, Warum, Wie, Wann und Wo) in den Mittelpunkt aller anzustrebenden Veränderungen. Wie immer in systematischen Zusammenhängen sind die Gelingensbedingungen unterschiedlich von Verhaltensweisen und Verhältnissen abhängig. Verhalten lässt sich dabei besser beeinflussen als die Verhältnisse ('Das System'). Hier sind Veränderungen am ehesten in meinem und deinem Unterricht und in meinem und deinem Rollenverständnis möglich. Wie weit wollen wir gehen? Wie können wir die Reise positiv gestalten? 

 

Im Entwicklungsfeld Unterricht (Teil 2/5) geht es um Themenorientierung, Projektlernen, Individualisierung und den FreiDay für nachhaltige Entwicklung. 

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Kommentare: 5
  • #1

    Nele Dageförde (Montag, 01 Juni 2020 14:19)

    Hallo Jan,
    sehr guter post. Chapeau!
    Wir begleiten derzeit ehrenamtlich eine 6. Schulklasse in Kiel bei den ersten Schritten zu einer neuen Lernkultur. Unserer Meinung nach, bräuchte jede Schule einen digitalen Coach, der die von dir vier beschriebenen Handlungsfelder in einer Schule vorantreibt.
    Wir haben unsere Learnings in mehreren Artikeln beschrieben - was 'unsere' Lehrer jetzt benötigen, um den nötigen Mut weiter zu entwicklen ist ein Netzwerk aus Machern und Glöeichgesinnten, damit dieses kleine Biotop weiter wachsen kann!

    1. Artikel: https://cryptpad.fr/pad/#/2/pad/view/aCg0YXIfGXz147l3s+QCRbE7LxeuojU57EVEYOyfzS8/
    2. Artikel: https://cryptpad.fr/pad/#/2/pad/view/ncf7IY9FAHrJ7J+DwGhvHT-QfQJzAsMNpB8bLCFiq64/
    3. Artikel: https://cryptpad.fr/pad/#/2/pad/view/RZ1RJMg+LObLmF41e5wejggwkBGwe9R36bTC9SvDLm8/

    Vernetzung und Austausch ausdrücklich erwünscht! Freuen uns auf die Vernetzung.
    VG
    Nele und Jonas

  • #2

    Stefan (Dienstag, 02 Juni 2020 17:48)

    Hallo,
    Fremdbestimmung, kein Platz für Leidenschaften, angeblicher Gleichschritt, keine authentischen Lernsituationen... das entspricht schon seit fast zwei Jahrzehnten nicht mehr der Unterrichtswirklichkeit!
    Daher halte ich die Beschreibung der Ausgangslage für komplett falsch.

  • #3

    Bärbel Binkle (Montag, 10 August 2020 10:06)

    Jan spricht die wirklich relevanten Handlungsfelder an. Natürlich sind viel von uns seit Jahren dabei diese „Felder“ zu beackern. Aber oftmals nicht tiefgreifend und konsequent genug. Apodiktische Diskussionen bringen uns nicht weiter und sind selten lösungsorientiert.

  • #4

    Anonym1 (Dienstag, 06 Juli 2021 09:40)

    1. Die Werte unserer Schule sind die Werte des Industriezeitalters
    Nein. Die Kompetenzorientierung hat die Schule endgültig auf den Boden des Neoliberalismus gestellt und humanistische Werte, die die Bildungsdiskurse des industriellen Zeitalters dominierten, endgültig verabschiedet. Siehe dazu: Andreas Gelhard (2018) Kritik der Kompetenz.

    2. Fremdbestimmung ist das Paradigma unserer schulischen Lernorganisation
    Nein. Seit der Wende zuerst zum schülerorientierten und später zum aufgabenorientierten Unterricht ist Autonomie zum Leitbegriff beworden. Sowohl die Pädagogik als auch die Didaktik wenden sich schon seit einiger Zeit (den 1970er?) gegen den “Gleichschritt” und die “Fremdbestimmung” durch lehrerzentrierten Unterricht und setzen immer weiter eine neue Lehrerrolle als Berater und Moderator durch. Siehe dazu: Christoph Türcke (2016) Lehrerdämmerung.

    3. Unsere Schule bietet wenige authentische Lernsituationen
    Leider wird nicht wirklich erläutert, was hier unter “authentisch” verstanden werden soll. Wenn darunter die Vorstellung einer Freiheit von äußeren oder gesellschaftlichen Zwängen nach dem Vorbild Rousseaus (in Emile) verstanden werden soll, dann greift hier natürlich die Kritik an Rousseau: schiere Romantik. Wenn darunter eine Art der Orientierung an eine/die Lebenswelt verstanden werden soll, wobei “authentisch” als einfacher Gegensatz zu “gezwungen” oder “künstlich” konstruiert wird, dann liegt dem ein absolut oberflächlicher Begriff von Lebenswelt zugrunde.
    Zu ersterem siehe: Michael Wimmer (2007) Der Traum von einer zwanglosen Erziehung und einer aggressionsfreien Gesellschaft, in ders. (2014) Pädagogik als Wissenschaft des Unmöglichen.
    Zu letzterem siehe: Bernhard Waldenfels (1985) In den Netzen der Lebenswelt.

    4. Unser Unterricht lässt kaum Platz für Leidenschaften und eigene Interessen der Lernenden
    Diese Leidenschaften und Interessen sind nicht angeboren, sondern bilden sich aus – mitunter durch den Prozess der Sozialisation und nicht zuletzt durch leidenschaftliche Lehrpersonen, die das Interesse zu wecken wissen. Das Bestehen oder Abschaffen von Lehrplänen hat damit wenig zu tun.
    Wie soll ich nämlich jemals eine Leidenschaft, ein Interesse oder gar ein Verständnis für klassische Musik entwickeln, wenn mich nie jemand von meinen flachen „Interessen“ und „Leidenschaften“ für Popmusik (sind diese ernsthaft als „authentisch“ zu bezeichnen?) zu klassischer Musik hin leitet?
    Die Möglichkeit von „Serendipität“ hängt nicht davon ab, ob Inhalte vorgegeben, Ziele festgelegt oder starre Stundenpläne gebildet werden, sondern vielmehr von der Art des Umgangs mit Unerwartetem, Ungewohntem oder Unbekanntem innerhalb eines Rahmens von Erwartbarem, Gewöhnlichem oder Bekanntem. Siehe dazu: Bernhard Waldenfels (2006) Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden.

    5. Lehre im Gleichschritt widerspricht dem Gedanken von Individualisierung und Inklusion
    Nein. Das Imperativ der Flexibilisierung (Richard Sennet), das stets hinter Lobpreisungen von Selbstverwirklichung lauert, und das bittere Leitbild des unternehmerischen Selbst (Ulrich Bröckling), das die Selbststeuerung steuert, bedingt die Individualisierung und Inklusion aller gleichermaßen. Man könnte sagen: Wenn Individualisierung zum Repertoire der neoliberalen Techniken der Macht gehört, dann tanzen alle im Gleichschritt nach der Pfeife neoliberaler Imperative. Siehe dazu: Byung-Chul Han (2014) Psychopolitik.
    Zudem: Warum ist Individualisierung und Inklusion schlichtweg (unhinterfragt?) das Richtige und Gleichschritt das Falsche? Siehe dazu wieder: Christoph Türcke (2016) Lehrerdämmerung.

  • #5

    Anonym2 (Dienstag, 06 Juli 2021 09:41)

    Das Dogma der „Grenzenlosen Bildung“ ist ein Dogma der Anpassung an gesellschaftliche – und das heißt heute vordergründig: ökonomische – Bedürfnisse. Das zeigt sich etwa an Sätzen wie:

    “Gesellschaftlich ist jedoch Gegenteiliges zu beobachten: …”
    “Wer loslässt, hat beide Hände frei”
    “Während hierzulande [...], geschieht in der Wirklichkeit genau das Gegenteil: […]”

    Dabei durchschaut dieser Diskurs einer „Grenzenlosen Bildung“ nicht, dass dessen Forderungen nach Individualisierung, Selbstbestimmung, etc. selbst eine Anpassungsleistung darstellen und selbst ein Ausdruck neoliberaler Vorherrschaft ist. Der Grund dafür liegt in den oben skizzierten Missverständnissen, die diesen Sachverhalt verdunkeln. Eine Bildung, die sich bloß durch die Beschwörung einseitiger Grenzen definiert (also keine Bildung sein kann/will, die etwa Kultur von Barbarei abgrenzt), kann nicht in der Lage sein, ihr eigenes Verhältnis zur Gesellschaft zu reflektieren. Das allerdings ist die Voraussetzung für jegliche Art von emanzipatorischer Bildung (siehe dazu: Heinz-Joachim Heydorn (1970) Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft). Die auf vedducation.de dargestellte „Grenzenlose Bildung“ entpuppt sich als Ideologie der grenzenlosen Bejahung und Ausweitung des Neoliberalismus, als grenzenlose Kolonisierung des Bildungssektors durch das Kapital, als Aufhebung der Grenzen, die eine automatische Reproduktion der bestehenden Verhältnisse erschweren, als Abschaffung der Möglichkeiten, dem Strom der Dinge die Stirn zu bieten. Eines ist diese Konzeption von Bildung jedenfalls nicht: kritisch.


    Adorno: Wir „sind geneigt, den Begriff der Anpassung, des adjustement, bloß als Negativum, als Auslöschung der Spontaneität, der Autonomie des einzelnen Menschen anzusehen. Es ist aber eine von Goethe und von Hegel scharf kritisierte Illusion, dass der Prozess der Vermenschlichung und Kultivierung sich notwendig und stets von innen nach außen abspiele. Er vollzieht sich, wie Hegel es nannte, auch und gerade durch 'Entäußerung'. Wir werden nicht dadurch freie Menschen, dass wir uns selbst, nach einer scheußlichen Phrase, als je Einzelne verwirklichen, sondern dadurch, dass wir aus uns herausgehen, zu anderen in Beziehung treten und in gewissem Sinn an sie uns aufgeben. Dadurch erst bestimmen wir uns als Individuen, nicht indem wir uns wie Pflänzchen mit Wasser begießen, um allseitig gebildete Persönlichkeiten zu werden."