Alles neu macht der Mai? Von wegen! An Schulen bestimmt nicht. Diese Woche z.B. stehen wieder die Abschlussarbeiten an. Für die etwa 60.000 Schülerinnen und Schüler der Jahrgänge 9 und 10, die einen Hauptschul- oder Realschulabschluss anstreben, eine sorgenvolle Zeit. Und wir Lehrkräfte? Naja, sagen wir so: Ich brauche diese umfassende Lernzielkontrolle ganz bestimmt nicht. Nicht nur aufgrund des besonderen Korrekturaufwandes, sondern weil sich mir der Sinn dieses Formates schon lange nicht mehr erschließt.
Abschlussprüfungen sind seit Jahrzehnten das große Finale der Schullaufbahn. Doch was mal als objektives Maß für Wissen und Leistung galt, ist längst nicht mehr zeitgemäß. Schöne Grüße von der KI.
In unserer BANI-Welt, die sich rasant wandelt und in der Kompetenzen wie Kreativität, Teamarbeit und Problemlösungsfähigkeit immer wichtiger werden, wirken traditionelle Prüfungen wie Relikte aus einer vergangenen Epoche. Prüfungen, Tests, Klassenarbeiten - die heilige Dreifaltigkeit der Schule. Sind sie die letzte Daseinsberechtigung von Schule?

Das zuvor auswendig Gelernte soll in einer scheinbar objektiven Prüfung abgefragt werden. Schriftliche Arbeiten, oft reduziert auf das bloße Abrufen von Reproduktionswissen, frustrieren am Ende alle Beteiligten – nicht nur die Schüler:innen, sondern auch die Lehrkräfte. „Warum haben sie das denn nicht verstanden?“ – „Wir haben es doch so oft besprochen!“ Und schon stehen wir wieder vor der Frage nach der Lernkultur. Wenn historische Daten oder mathematische Formeln lediglich auswendig gelernt und bei Bedarf mechanisch wiedergegeben werden müssen, hat das mit echtem Lernen nur wenig zu tun (Bob Blume 2022). Noch problematischer: Die Note unter der Klausur sagt letztlich kaum etwas über den tatsächlichen Lernfortschritt und viel zu wenig über die Handlungskompetenz der Lernenden aus.
Stress und Angst statt echter Lernfreude
Der Sinn und Zweck von Überprüfungssituationen erscheint mir oft einzig und allein darin zu liegen, Defizite nachzuweisen, die dann zur weiteren Selektion führen und bei Schülerinnen und Schülern vor allem Frust, Angst und Stress erzeugen. Viele Kinder und Jugendliche erleben Schule grundsätzlich als Belastung. 43 Prozent der Schülerinnen und Schüler leiden nach einer Untersuchung der DAK unter Stress. Stundenlanges Trichterlernen, schlaflose Nächte, Versagensängste – all das prägt die Zeit vor den Abschlussprüfungen. Die Angst, an einem einzigen Tag "alles" zu verlieren, was man sich über Jahre aufgebaut hat, mag zwar ein eher irrationaler Gedanke sein, sorgt aber bei vielen Jugendlichen für eine enorme Belastung. Dabei weiß doch eigentlich jeder, dass Prüfungsstress nicht nur die psychische Gesundheit beeinträchtigt, sondern auch das tatsächliche Leistungspotenzial mindert (Quelle).
Angst blockiert Kreativität, hemmt das Denken und verhindert von vornherein echtes Lernen. Stress und Angst haben logischerweise Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit und das Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler. Symptome können dann z.B. Konzentrationsprobleme, Gedächtnisblockaden, Schlafstörungen oder Magen-Darm-Beschwerde sein (Quelle). In einigen Fällen kommt es auch zu „Blackouts“, bei denen selbst gut vorbereitete Schülerinnen und Schüler plötzlich keinen Zugriff mehr auf Gelerntes haben. Und so bleibt die bohrende Frage: Wozu das Ganze? Weil es uns auch nicht geschadet hat? Weil wir eine Leistungsgesellschaft sind?
Wir bewegen uns schon viel zu lange in einem Bildungssystem, das sich immer noch an den Werten und Strukturen des Industriezeitalters abarbeitet – Fließbandprüfungen statt echter Lerngelegenheiten. Abschlussprüfungen stehen im Sinne einer neuen Lernkultur sinnbildlich für Fremdbestimmung und fehlende Authentizität. Sie sind eine künstliche Leistungssituation und ich frage mich jedes Jahr aufs Neue, was genau Abschlussprüfungen eigentlich noch in einer Schule leisten sollen, wenn diese sich ernsthaft auf den Weg in Richtung Zukunft macht? Geben sie doch allenfalls vor, objektiv zu messen, was meine Lernenden wirklich „können“. Ausgeblendet werden zentrale Kompetenzen wie Kreativität oder Co-Kreation nahezu komplett. Was bleibt, ist ein Prüfungsritual, das dann eben nur noch Stress und Angst produziert, welches aber wenig zu Anforderungen an das Lernen und das Leben im 21. Jahrhundert passt. Die Prüfung am Ende der Schulzeit ist kein Gradmesser für Zukunftsfähigkeit, sondern viel mehr bloß ein Relikt. Sie fördert kurzfristiges Auswendiglernen, verhindert nachhaltiges Lernen und verstärkt zu allem Überfluss soziale Ungleichheiten. Wer nicht "funktioniert", fällt durch – unabhängig von Talenten, Interessen oder möglichen Potenzialen. Die Abschlussprüfungen können weg!
Es ist höchste Zeit, festgefahrene Strukturen zu hinterfragen, vermeintliche Komfortzonen zu verlassen und Schule als echten Lern- und Lebensraum zu denken. Dazu gehört eben auch unsere Prüfungskultur zu hinterfragen. Für eine neue Lernkultur braucht es nicht nur neue Lernformate wie den FREI DAY, sondern in aller Konsequenz auch neue Prüfungsformate, die individuelle Entwicklung, Reflexion sowie Kooperation ermöglichen und echte Kompetenzen sichtbar machen – und nicht nur das "Funktionieren" an einem Stichtag. All unsere Prüfungen gehören im Wortsinn auf den Prüfstand, wenn die Transformation von Schule und der Paradigmenwechsel hin zu einer sinnstiftenden Bildung im angstfreien Kontext gelingen soll.

Die vom Institut für zeitgemäße Prüfungskultur entwickelten Schieberegler stehen für diesen Paradigmenwechsel: weg von starren, standardisierten Prüfungen – hin zu flexiblen, lernförderlichen und partizipativ gestalteten Leistungsnachweisen. Sie geben Lehrkräften und ihren Schulen Parameter an die Hand, um Prüfungen als Teil einer modernen Lernkultur zu denken und gemeinsam mit Lernenden weiterzuentwickeln. Statt eine Prüfung als starres, einheitliches Format zu denken, ermöglicht es dieser Ansatz, verschiedene Dimensionen mithilfe von „Schiebereglern“ individuell anzupassen und niederschwellig mit der notwendigen Veränderung zu beginnen.
Auf zu neuen Ufern
An meiner Schule läuft vieles anders als an klassischen Schulen: Keine Schulbücher, keine Kreidetafeln, keine starren Fächerstrukturen im Stundenplan. Schon bei den ersten Überlegungen zum neuen Schulkonzept haben wir nicht nur die äußeren Rahmenbedingungen und die Inhalte kritisch hinterfragt, sondern auch ganz bewusst auf die Sprache und Begriffe geachtet, die unseren Schulalltag prägen. Denn gewählte Sprachbilder beeinflussen, wie wir über Lernen, Leistung, junge Menschen und deren Entwicklung denken – und damit auch, wie wir Prüfungen gestalten. Statt klassischer Prüfungen setzen wir deshalb möglichst oft auf alternative Gelingensnachweise: Lernpräsentationen, Portfolios, Projekte oder Lerntagebücher geben Raum für individuelle Stärken und zeigen, was Schülerinnen und Schüler wirklich können. Ich weise als Lehrperson darin nicht nur stumpf die Defizite meiner Schülerinnen und Schüler nach, sondern Lernende dürfen ihr Gelingen nachweisen. So wird Kompetenzzuwachs z.B. nicht mehr zwingend an einem bestimmten Tag gemessen, sondern kontinuierlich, selbstbestimmt und prozessorientiert dokumentiert. Schule wird so zu einem Ort, an dem Lernen und Prüfen zusammen gedacht werden – und in dem jeder zeigen kann, was in ihm/ihr steckt. Das macht etwas mit allen Beteiligten. Das macht etwas mit der Beziehung zwischen Lernenden und ihren Lernbegleitungen.
Dennoch: Ich bin ja (meistens) realistisch. Die Formate der schriftlichen Abschlussarbeiten bleiben uns wohl noch länger erhalten. Daran wird auch dieser Beitrag wohl nichts ändern. Doch es lohnt sich, schon im Kleinen anzufangen und neue Wege zu gehen – auch wenn das große System noch nicht bereit ist. Wir müssen das Rad dafür gar nicht unbedingt neu erfinden, sondern mutig Ideen der Reformpädagogik in die Gegenwart holen und (digital) weiterdenken.
Auf diesem Blog habe ich schon vor 3 Jahren ganz konkrete Beispiele aus unserer Schule gesammelt, wie alternative Gelingensnachweise im Alltag aussehen können – und welche Settings sie brauchen, damit Lernen wirklich gelingen kann.
Viel Spaß beim Stöbern!
Praxis: Alternative Gelingensnachweise von A bis Z (Teil 1)
Praxis: Alternative Gelingensnachweise von A bis Z (Teil 2)
Kommentar schreiben