Blackbox - Ein- und Ausblicke einer Schule im Wandel

Dieses Schuljahr ist ein besonderes Schuljahr. Nachdem 2019 mit der Einführung des FreiDay die Neugestaltung von Unterricht an der OBS Berenbostel bereits begonnen hatte, gingen im September 2020 THEO und LEA ins Rennen.

 

Nun neigt sich das erste Schuljahr mit unseren beiden Herzstücken dem Ende und es wird Zeit die Blackbox zu öffnen.

 

Los geht's!

 

Corona hat es uns nicht leicht gemacht und dennoch sind wir den (steinigen) Weg auch im Jahr der Pandemie konsequent weitergegangen.

 

Der Anspruch war und bleibt  groß: Unser Stundenplan ist geprägt von längeren, fächerübergreifenden Lernzeiten, dem Themenorientierten Lernen (kurz THEO). Dazu haben wir die Fächerstruktur weitgehend aufgelöst und Unterricht und das Lernen von Themen und Perspektiven her gedacht. Es geht uns also nicht darum, herkömmlichen Unterricht mit alternativen Prüfungsformaten und/oder digitalen Highlights lediglich "aufzuhübschen", sondern Schule und Unterricht buchstäblich auf den Kopf zu stellen. 

 

Unsere Lernenden erwarten seit 2020 vier große Themenbereiche in einem Schuljahr, die in vier Perspektiven kategorisiert sind: Natur & Raum, Mensch & Gesellschaft, Zeit & Geschichte sowie Technik & Zukunft. Ausgehend von diesen Perspektiven (im Bild mittig dargestellt) bilden Wissen, Kompetenzen und Haltungen den Dreiklang für eine/unsere zukunftsfähige Schule. 

 

Die Perspektiven bilden den roten Faden über die gesamte Schulzeit hinweg. Im themenorientierten Unterricht  lernen die Schüler*innen, Themen in größeren Zusammenhängen zu denken und aus verschiedenen Blickrichtungen zu betrachten. Inhalte fusionieren zu Projekten, die über einen Zeitraum von 8 Wochen erarbeitet werden. Ständige Begleiter sind der Schwerpunkt BNE und die damit verbundenen 17 Ziele nachhaltiger Entwicklung.  

  

Wir wollen die Selbstständigkeit und Selbstverantwortung für das eigene Lernen stärken. Unsere Jugendlichen sollen Selbstwirksamkeit erfahren und Schule wieder als echten Lernort begreifen. Themenorientiertes Lernen steht für Mehrperspektivität, indem subjektive Perspektiven der Lernenden mit fachlichen Perspektiven verschmelzen.

Neben der permanenten Haltungsarbeit im Kollegium war die Neugestaltung des Stundenplans und die veränderte Rhythmisierung eine große Herausforderung. 

 

Rhythmisierung

Nicht nur der THEO selbst ist im Stundenplan fest verankert, sondern auch Sonderfälle wie Sport, AGs oder der Wahlpflichtbereich werden berücksichtigt.

Jeder Tag startet bei uns mit der sog. Theo-Planung. Hier strukturieren die Schüler*innen ihren Tag und ihr Lernen möglichst eigenverantwortlich. Natürlich werden sie dabei von uns begleitet und erhalten im wöchentlich stattfindende LEA eine Rückmeldung  zu ihren Planungen und der Arbeit in der Theozeit. 

 

Aufgrund von Corona konnte der Stundenplan im 2.Halbjahr leider nicht wie ursprünglich angedacht umgesetzt werden. Daher fehlen uns bisher die Erfahrungswerte. Zudem wird es auch weiterhin Anpassungen geben müssen, da einige unserer Projekte (wie z.B. "Schüler kochen für Schüler") erst in Zukunft so richtig Fahrt aufnehmen werden.  

 

Die einzelnen Theos finden immer im Doppeljahrgang statt (5/6, 7/8 und 9/10) und folglich soll(t)en so auch die Theo-Camps (siehe Stundenplan) organisiert werden. Die Camps, die ähnlich wie Barcamps organisiert werden, bilden einen wichtigen Bestandteil unseres Konzeptes. In der geplanten Form konnten die Camps leider während der Hochphase der Pandemie nicht durchgeführt werden, da eine Gruppendurchmischung nicht erlaubt war. Im kommenden Schuljahr werden die Theocamps aber einen besonderen Stellenwert bekommen, um die vielen Phasen der individuellen Lernzeit besser zu flankieren. Natürlich können auch Schüler*innen Sessions anbieten. 

 

Nach dieser Vorlage sollen zukünftig die zwei Sessions der wöchentlichen Theocamps für die Lernenden visualisiert werden.  

Sobald die Erfahrungswerte der Theocamps größer sind, werde ich im kommenden Schuljahr explizite Einblicke dazu im Blog geben. 

 

Ein Theo entsteht

Jeder Theo wird von einem 8- bis 12-köpfigen Team geplant und vorbereitet. Möglichst viele Fachdisziplinen kommen dabei zum Tragen. Bereits in der ersten Phase der Pandemie im März 2019 hat ein Großteil des Kollegiums über geteilte Dokumente und Videokonferenzen gebrainstormt und Vernetzungen von Fachdisziplinen festgehalten.

 

Zu Beginn eines ersten Planungstreffens innerhalb einer neue Theogruppe geht es dann vor allem darum, auf der Basis der o.g. Vorüberlegungen eine gemeinsame fächerübergreifende Kernaufgabe zu definieren. Aus dieser leiten sich im Folgenden verschiedene Lernbereiche (von den Schüler*innen auch Satelliten genannt) ab. In jedem THEO erwartet die Schüler*innen also ein Pflichtthema mit übergeordneter Kernaufgabe.

 

Die einzelnen Lernbereiche sollen möglichst nicht nach Fächern aufgesplittet werden. Nicht immer gelingen Verknüpfungen, ohne allzu künstliche Verbindungen zu schaffen. An der inhaltlichen Ausgestaltung der Lernbereiche arbeiten bestenfalls verschiedene Fächer zusammen. So ergibt sich im Verlauf des Prozesses eine Übersicht für die Schüler*innen mit der Kernaufgabe und den Lernbereichen eines Theos. Hier ein Beispiel aus dem Theo 'Let's have a party' für Jahrgang 5/6.

 

Im aktuellen Theo für den JG 5/6 'Ein Wald voller Rätsel' aus der Perspektive 'Natur und Raum' erstellen die Lernenden z.B. in den Lernbereichen verschiedene Rätsel rund um das Thema Wald. An den Waldtagen experimentieren die Schüler*innen zu den verschiedensten Themen im Wald. Im Lernbereich 'Waldausflug' haben sie vorher die wichtigsten Dinge gelernt, um gut vorbereitet auf Exkursion zu gehen. 

 

Innerhalb der Lernbereiche werden Aufgaben, Materialien, Experimente etc. in drei farblich gekennzeichneten Schwierigkeitsstufen von uns Lehrer*innen vorbereitet. Die Farbe blau ist dabei den Kindern mit Förderdedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Bereich Lernen zugewiesen. Zusätzlich gibt es in den meisten Fällen eine vierte Differenzierung für Kinder mit dem Förderbedarf 'Geistige Entwicklung' (GE). Die Farbe grün bildet das Grundniveau, die Farbe rot das Erweiterungsniveau ab. Alle Lernbereiche werden darüberhinaus möglichst für unsere zahlreichen DAZ-Kinder aufbereitet.

 

Im besten Fall tragen die Lernbereiche zur Erarbeitung und/oder Fertigstellung der Kernaufgabe bei. Zusätzlich zu den Pflichtthemen können noch Zusatzaufgaben und/oder Wahlteile integriert werden. Hier an einem Beispiel des Theos 'Let's have a Party' und dem Lernbereich 'Entertainment & Deko' dargestellt:

 

"Wahnsinn"

Wenn du bis hierhin gelesen hast, denkst du dir vielleicht: "Wahnsinn! Wie habt ihr das geschafft und woher nehmt ihr bloß die Kraft und Zeit?"

 

Ja, das fragen wir uns auch manchmal! Dieser Kraftakt in Zeiten von Corona ist meines Erachtens beispiellos, auch wenn die Jury des deutschen Schulpreises (spezial) das anders gesehen hat ;-).

 

Klar ist, dass so ein Konzept über Jahre wachsen muss und nicht von heute auf morgen eingeführt werden kann. Die enorme Relevanz der Haltungsarbeit habe ich bereits angesprochen. Denn uns Lehrkräften haben wir ja "einfach" das vertraute Unterrichtssetting buchstäblich unter den Füßen weggezogen. Die Belastung während der Planung ist groß, der Frust während der Durchführung nicht immer gering. Schüler*innen können bekanntermaßen nicht alle selbständig planen und arbeiten und manchmal müssen wir als Lernbegleiter*innen nun auch mit uns ungewohnten Materialien/Aufgabenstellungen von Kolleg*innen arbeiten und/oder mit unfertigen Strukturen klarkommen. 

 

Die Schulleitung und unser Didaktikteam (ich bin ein Teil davon) versuchen alle Brände zu löschen und nach und nach Struktur und Halt zu geben. So wurde in den letzten Monaten z.B. ein Fahrplan zur Theo-Erarbeitung von uns erstellt. Außerdem erhalten die Kolleg*innen aus den Arbeitsgruppen Entlastungen zur Planung. Angeführt werden die jeweiligen Theoplanungsgruppen mittlerweile von zwei sog. Theoköpfen, die in direktem Kontakt zu uns als Didaktikteam stehen.

 

Baustellen und #failforward

Logisch, es gibt noch genug zu tun. Nicht nur die Optimierung der Abläufe oder die Planungen der neuen Theos stehen an, sondern auch die Überarbeitung bisher erarbeiteter Themen und Inhalte.

 

Und: Natürlich machen wir Fehler. Dies kommuniziert die Schulleitung auch regelmäßig in die Richtung der Eltern. Dennoch sind wir überzeugt, dass der Weg der richtige ist und es im Grunde keine Alternative gibt. Die Lehre im Gleichschritt jedenfalls ist ein totes Gleis.

 

Es gibt logischerweise zahlreiche Knackpunkte, von denen ich hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit "nur" fünf auflisten möchte:

  • Individualisierung vs. Kooperation 

An unserer Schule gibt es eine 1:1 Ausstattung mit Tablets und (meistens zumindest) eine stabile Internetverbindung. Ersteres hat auch die Fortsetzung der Theos im Distanzlernen möglich gemacht. Das gesamte Material und alle Aufgaben liegen für 8 Wochen im Voraus digital bereit. In diesem von uns intendierten Setting arbeiten die Kids oft für sich und lernen eben individuell. Das ist auf der einen Seite gut, aber auf der anderen Seite verbringen sie mitunter sehr viel Zeit am Tablet und mit sich allein. Es ist an uns, noch mehr Phasen von Gruppenzusammenkünften und Methoden wie Standbilder, Partnerarbeiten oder Rollenspiel zu integrieren und kooperatives Lernen auch im Theo weiter zu fördern.

  • Input

Wie erhalten Schüler*innen klassischen Input? Es gibt keine frontalen Phasen mehr. Diese sind zukünftig in den Theocamps zwar möglich, dennoch kommen immer wieder Rückmeldungen dazu - sowohl von den Lernenden als auch von den Lehrenden. Klar, beide Seiten sind es anders aus der Schule gewohnt und die Umstellung braucht noch mehr Zeit. Dennoch lassen sich nicht alle Erklärphasen durch Videos ersetzen, da dann wieder die Interaktion z.B. in einem gemeinem Klassengespräch zu kurz kommt (siehe vorheriger Punkt). Besonders für die Sprachen haben wir uns hier für einen Sonderweg entschieden, der aber auch immer wieder von anderen Fachbereichen ins Spiel gebracht wird.

  • Sprache

Sprachen bilden eine Sonderstellung. Um eine Sprache zu lernen, muss ich sie sprechen, hören und ich benötige Sprachvorbilder. Für das Fach Englisch haben wir daher sog. 'Speaking Sessions' in die Wochenstruktur der Jahrgänge integriert. Hier wird gemeinsam gesprochen, kooperativ gelernt und aktiv kommuniziert. Nur mit einem gewissen Grundwortschatz können die Lernenden dann später selbstständig in den Lernbereichen Aufgaben auf Englisch bearbeiten. Daher ist in den unteren Jahrgängen innerhalb des Pflichtthemas in der Regel ein zusätzlicher Lernbereich für das Fach Englisch ausgewiesen, der weniger mit anderen Fächern vernetzt ist.

  • Arbeitsblattdidaktik

Den Anspruch an unseren Theo habe ich bereits eingangs geschildert. Mit dem Fortschreiten des Schuljahres und der Entwicklung wird uns bewusst, dass die Lernenden oft Arbeitsblätter abarbeiten und nacheinander Aufgaben (Lernschritte) bearbeiten. Hier merken wir klar, dass es eindeutig mehr handlungsorientierte Ansätze (Stichwort Waldtage oder Forscherboxen) und entsprechende Materialen braucht, um eine echte Ganzheitlichkeit zu schaffen und zu fördern. Mit Kopf, Herz und Hand, denn das Setting des Schreibsaals wollten wir schließlich mit unserem neuen Konzept auflösen. Hier liegt sicherlich der größte Nachholbedarf im Theo. Dies ist einem Großteil der Kolleg*innen aber bewusst.

  • Noten

Zum Schluss natürlich noch das leidige Thema Benotung und Bewertung. Mit der Einführung von Theo haben wir uns von den klassischen Begriffen wie Arbeit, Test oder Referat verabschiedet. Die Schüler*innen erbringen in den Lernbereichen sog. Gelingensnachweise und können sich dafür individuell anmelden. Sie entscheiden also selbst, wann sie ihr Gelingen nachweisen. Dies können klassische Arbeiten sein, aber auch gestaltete E-Books, Audiofiles, mündliche Gespräche oder Protokolle von Experimenten. Unser größtes Problem liegt dabei in den rechtlichen Vorgaben des Landes Niedersachsen für unsere Schulform (Oberschule). Wir müssen in den Zeugnissen Ziffernnoten in einzelnen Fächern ausweisen. Um dies umzusetzen, sind wir also gezwungen, die miteinander verwobenen Strukturen für die Notengebung wieder aufzulösen und in Noten zu gießen. 

 

Diese Hürde wollen wir zukünftig überwinden und haben uns u.a. aus dem Grund für das Modellprojekt Zukunftsschule  beworben. In dem Modellprojekt wollen wir die Schwerpunkte BNE und Demokratiebildung ebenfalls weiter schärfen und ausbauen. 

 

Ausblick

Ein kräftezehrendes Schuljahr biegt auf die Zielgerade und das nächste wird nicht weniger anstrengend. Bis zu 12 neue Theos werden an der OBS Berenbostel entstehen. Im Prozess werden sicherlich viele neu Baustellen zu bearbeiten sein. Genau wie erste Erfolgserlebnisse gefeiert werden wollen. Für das Schuljahr 21/22 sind die Kolleg*innen bereits in Planungsteams eingeteilt und die Zeiträume wurden von uns als Didaktikteam festgelegt. Es bleibt also spannend - mit diesem großartigen Kollegium allerdings vielversprechend! :-)

 

 

Arbeitsstand Mai 2021

Ob das, was wir tun, tatsächlich Einfluss auf das große Ganze hat, bezweifle ich mittlerweile. Zu wenig ist passiert in den letzten Monaten - zu starr erscheint das System. Der Selbsterhaltungstrieb wirkt zu groß.

 

Die Chance zur Veränderung war eigentlich so groß wie nie. Solange jedoch UnterrichtsVERSORGUNG und StoffVERMITTLUNG zentrale Säulen von Schule sind, wird das wohl nichts mit dem großen Wurf. 

 

Davon lassen wir uns jedoch nicht beirren. Im Gegenteil. Es lohnt sich immer anzufangen. Auch, oder gerade im Kleinen. Für die Kinder und Jugendlichen vor Ort. Auch an deiner Schule. Oder um es mit  Andreas Schleicher zu sagen:  "Jeder Lehrer sollte selbst so viel wie möglich darüber nachdenken, was der richtige Unterricht ist, um die Kinder auf die Welt von morgen vorzubereiten." 

 

To be continued...