Komfortzonenverteidigung

Komfortzone: "Eine Komfortzone ist der durch Gewohnheiten definierte Bereich eines Menschen, in dem er sich wohl und sicher fühlt und es ihm deswegen leicht fällt, mit der Umwelt zu interagieren. Die Komfortzone ist bei jedem Menschen unterschiedlich und individuell, ebenso wie die Folgen und Anstrengungen, die Komfortzone zu verlassen." (Wikipedia)

 

Zonenverteidigung: "Zonenverteidigung (...) nennt man beim Basketball eine Verteidigung, bei der die Spieler einen Raum und keinen direkten Gegenspieler verteidigen." (Wikipedia)

 

Schneckenrennen

"Strukturelle Veränderungsprozesse in Schule dauern 15 Jahre" hat Professor Christoph Igel bei einer Podiumsdiskussion in Hamburg Anfang 2018 gesagt. Mir ist dieser Satz in besonderer Erinnerung geblieben und ich zitiere ihn selbst gerne bei eigenen Referententätigkeiten. Steht die Aussage doch im besonderen Missverhältnis zum beschleunigten Wandel und zur Dynamik der VUCA-Welt. Schule als ruhender Pol in unsicheren Zeiten oder Schule als behäbiger Tanker - ein Auslaufmodell aus dem letzten Jahrhundert (Vom Ende der Schule!?)? So oder so ist die übliche Reaktion: "15 Jahre? Das ist aber optimistisch". Schulentwicklung im Schneckentempo.

 

Insbesondere beim Thema "Digitale Bildung" wird deutlich, wie schwergängig Veränderungsprozesse sind. Generell beruht die Argumentation auf zwei Sichtweisen: Zum Einen werden diese strukturell, also systematisch begründet (dazu später mehr) und zum Anderen beziehen sich die Argumente auf die Haltungsebene, also persönlicher Befindlichkeiten (das Beamtentum macht es möglich). Schöne Grüße aus der Komfortzone.

a comfort zone is a beautiful place but nothing ever grows there

Je länger man als Lehrerin oder Lehrer im Beruf tätig ist, desto bequemer wird die Komfortzone. Abläufe, Verfahrensweisen, Strukturen, Unterrichtsinhalte, Methoden etc. sind über Jahre ritualisiert. Der Sitzplatz in der Schule, die morgendlichen Rituale, die Gespräche, die Sprüche. Als Jäger und Sammler sind das Arbeitszimmer und die Leitz-Ordner bis zum Rand gefüllt. Bildung ist resistent. 1+1 bleibt immer 2. Ob das Arbeitsblatt noch aktuell ist? Und wenn schon. 

 

Tweet von Sebastian Stoll. Quelle:   Bergedorfer Kopiervorlagen Wir hören das ABC

Meines Erachtens sollten Lehrkräfte spätestens alle 10 Jahre die Schule wechseln. Zum Einen aus o.g. Gründen, zum Anderen, um den jeweiligen Schulen neue Impulse, Innovationsansätze und Agilität zu ermöglichen. In Zeiten von Lehrkräftemängel ist dies sicher bloß eine Wunschvorstellung. 

 

Die Kultur der Digitalität verändert Rollen und Zugänge. Lehrkräfte sind keine Gatekeeper des Wissens und die Schule hat kein Wissensmonopol (mehr?!). Dass diese Veränderung zu Unsicherheiten bei den Lehrenden führt ist ganz normal. Da wirkt die Komfortzone doch gleich verlockender. Schnell die Schule zur Handyverbotszone erklären und weiter machen wie immer. Nur wie lange ist das noch möglich?

 

Der Wunsch nach der Komfortzone der Schule ist vielleicht schon (unterbewusst) im Berufswunsch Lehrer*in verankert. Martin Lindner beschreibt das so: "Viele beginnen gerade deshalb ein Lehramtsstudium gleich nach dem Abitur, weil sie sich mit ihrer Schülerrolle identifizieren und aus dieser vertrauten, geregelten und geschützten Umwelt gar nicht mehr weg wollen. Dass für sie die digitale Selbtsermächtigung der Lernenden nicht im Mittelpunkt stehen wird, ist klar." (Die Bildung und das Netz S.320)

 

Ist also die DNA der Schule bereits Teil unserer DNA oder ist es umgekehrt? Ich weiß es nicht. Fakt ist, dass im Bereich der Haltung und der persönlichen Einstellungen viel schneller Veränderungen möglich sind/wären als im strukturell-systemischen Kontext (ja, kommt gleich!). Verhalten lässt sich schneller/besser verändern als Verhältnisse. 

Tweet von Saskia Brintrup

Wir Lehrerinnen und Lehrer sind die Veränderungsagenten. Es beginnt bei uns. In unserem Unterricht. An unseren Schulen. Wir dürfen aktive Gestalter sein. Weniger sollte-hätte-würde-könnte. "Ausprobieren - Entdecken - Fehler machen - Verwerfen - Experimentieren - Reflektieren - Vernetzen. Diese Schritte werden die Lehrenden im 21. Jahrhundert gehen  müssen, um Schule und den eigenen Unterricht professionell weiter zu entwickeln oder ihn im besten Fall neu zu definieren." (Do it - Machen ist wie wollen, nur krasser)

Blinde Flecken

Nun komm ich endlich zum System. In aller Kürze. Damit lässt sich bekanntlich alles begründen.

Fächer auflösen? --> geht nicht

Prüfungsformate ändern? --> geht nicht

Internet? --> GEHT NICHT

...

Die "digitale Unordnung"  (Weinberger) passt schlecht in ein nach Schulformen, Fächern, Besoldungsgruppen getrenntes und erlassbasiertes Ordnungssystem. Auf der Suche nach dem Neuwert in der Kultur der Digitalität und den unendlichen Möglichkeiten, die diese Kultur uns bietet, geraten wir schnell an die Grenzen des in diesem System (vermeintlich) Machbaren. Spätestens das Zertifikat (holy Abitur lässt grüßen) ist das Totschlagargument von Schul- und Unterrichtsentwicklung 'out of the box'. 

Um echte Innovation zu ermöglichen, um Schule tatsächlich neu zu denken, fehlt uns oft der Blick von außen. Als Beteiligte des Systems sind wir blind für Veränderungen außerhalb unseres Horizonts. Die Systemtheorie nach Luhmann beschreibt diesen Zustand treffend:

 

"Ein System kann nur sehen, was es sehen kann, es kann nicht sehen, was es nicht sehen kann. Es kann auch nicht sehen, dass es nicht sehen kann, was es nicht sehen kann." (Niklas Luhmann)

 

Ob also ein realistischer Wandel von Schule innerhalb des System Schule machbar ist, liegt auch an der Bewusstheit der Beteiligten um dieses Paradoxon.  Nicht die Einführung von Tabletklassen oder der Gigabit-Anschluss der Schule sind das Ziel. Es können höchstens Zwischenschritte eines Prozesses sein. Wie das Ergebnis ausfällt, hängt vor allem von der Hartnäckigkeit unserer Zonenverteidigung des Schonraumes Schule und der Anstrengungsbereitschaft unsere Komfortzone zu verlassen ab. Die Entwicklunsgfelder sind bekannt. Kreative und neue Wege gibt es beispielhaft: "Innerhalb weniger Jahre ist in Wutöschingen ein öffentlich wahrnehmbarer Lernraum entstanden, in dem sich ausgezeichnet beobachten lässt, wie Kinder, Jugendliche und Erwachsene ihrem gemeinsamen Lernen auf die Spur kommen und sich dabei ohne Angst auf eine ungewisse Zukunft einlassen." (Laudatio Deutscher Schulpreis)

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Kommentare: 4
  • #1

    Jan (Freitag, 04 Oktober 2019 14:22)

    Einfach herrlich diese Situationsbeschreibung - wusste schon immer, dass die anderen sich ändern müssen!

  • #2

    Ben (Freitag, 04 Oktober 2019 16:01)

    Danke für diesen Beitrag! Gut auf den Punkt gebracht. Werde ich gleich mal mit meinem Kollegium teilen.

  • #3

    Jörg (Freitag, 04 Oktober 2019 19:02)

    In dieser Beschreibung finde ich 1:1 mein Kollegium und... auch z.T. mich selbst. Die brennende Frage ist: wie kommt man zügig aus diesen Denken & Handeln heraus? Mir ist dieses Schneckentempo oft zu langsam.

  • #4

    Andreas (Freitag, 04 Oktober 2019 20:55)

    Schön geschrieben, aber ist mir etwas zu unkonkret am Ende. Mir fehlt das klärende Fazit. Sorry!